Jorge Luis Borges zählt zu den großen Schriftstellern des 20. Jahrhunderts, die den Nobelpreis nicht bekommen haben. Was falsch ist. Denn Jorge Luis Borges hat erzählerische Maßstäbe gesetzt und poetische Landschaften erkundet, in denen vor ihm (und nach ihm) niemand war.
Als „blinder Bibliothekar“ ist er in die Literaturgeschichte eingegangen: In den 1950er Jahren verlor er nach langen Jahren schleichender Erblindung endgültig das Augenlicht – und wurde zugleich Direktor der argentinischen Nationalbibliothek. Er selbst bezeichnete das als „Ironie Gottes“, der ihm gleichzeitig „fast eine Million Bücher und die Dunkelheit schenkte“.
Bibliotheken, Bücher, Labyrinthe und Rätsel durchziehen seine zahlreichen Erzählungen und Essays. Ohne ihm damit schon völlig gerecht zu werden, summiert man sein Werk gerne unter der Überschrift „lateinamerikanische Fantastik“ oder „magischer Realismus“. Borges, der ein großer Anhänger des Kriminalromans war, stellt in seinen Texten Gesetze aller Art auf den Kopf, vermeintliche Beglaubigungen und angebliche Quellen werden von ihm frei erfunden (oder doch nicht? So sicher weiß man es nie…). „Die Wahrheit steht in einem berühmten Buch“ lässt er eine seiner Figuren sagen – das muss reichen, denn Geschichten sind ihm allemal so glaubwürdig wie Geschichte. Wie in einem guten Krimi kann man sich als Leser*in völlig dem Aufspüren der Zeichen hingeben, die er für uns setzt, die verwirren und erhellen zugleich. Anspielungen, virtuose Wechsel von Erzählperspektiven und Handlungssträngen sowie zahllose indirekte und direkte Zitate der Weltliteratur verbinden sich zu fantastischen, aufregenden und faszinierenden Geschichten, die süchtig nach immer mehr machen. Die großen Denker des Poststrukturalismus haben ihn schnell zum Säulenheiligen erkoren, denn hinter dem scheinbar grenzenlosen Spaß am Fabulieren verbirgt sich natürlich die philosophische Frage nach dem Wert von Wahrheit.
Jorge Luis Borges hat sich durch seine Erblindung nicht von der Literatur abhalten lassen. Er bediente sich der beeindruckenden Bibliothek in seinem Kopf, diktierte und lies sich vorlesen. Sich nun wiederum heute seine Sätze vorlesen zu lassen, ergibt also unbedingt Sinn!
Schauspieler Daniel Mutlu liest nach einer kurzen Einführung aus ausgewählten Erzählungen und spricht mit der Programmleiterin der Kakadu Bar, Sylvia Fritzinger, über die Texte, das Werk und den außergewöhnlichen Autor Borges.